Dieser Text erschien gekürzt im Falter 24/16, kurz nach den New Yorker Vorwahlen 2016. Einige typografische Fehler und eine missverständliche Formulierung wurden korrigiert.
Die goldfischgleiche Aufmerksamkeitsspanne der Medien [erzeugt] oft seltsame Symmetrien: vor zwei Wochen wurde im Falter der „erste grüne Präsident“ bejubelt. Denjenigen, die den Vorsprung von 30.000 Stimmen mit kleinen Unregelmäßigkeiten kontrastierten, wurde — zurecht! — Zündelei gegen die Demokratie und schlechtes Verlierertum vorgeworfen. Zwei Wochen später zieht Armin Thurnher den demokratischen Vorwahlsieg Hillary Clintons über Bernie Sanders in Zweifel. Kleine Unregelmäßigkeiten werden dabei einem Vorsprung Clintons von drei Millionen Stimmen gegenübergestellt.
Bernie Sanders und Donald Trump sagen „The system is rigged“, die Sache sei geschoben, und Thurnher gibt ihnen recht. Nur: keiner der beiden hat das über die demokratischen Vorwahlen gesagt. Donald Trump polterte damit gegen die seltsamen Modalitäten der republikanischen Vorwahlen, wo Delegierten oft undurchsichtig und nach dem Winner-Take-All-Prinzip vergeben werden. Die Statistik-Nerds von FiveThirtyEight haben ausgerechnet, dass diese Modalitäten tatsächlich unfair sind: sie bevorzugen, Trommelwirbel, Donald Trump. Trump sicherte mit dieser Aussage vielmehr seine Kandidatur gegen eine mögliche Niederlage beim republikanischen Parteitag ab. Statt eines schlechten Verlierers hätte er sich in diesem Fall als unabhängiger, vom Establishment gescholtener Underdog präsentieren können — eine prototypisch amerikanische Erzählung.
Und Bernie Sanders meint mit einem „rigged“ System doch nicht Unregelmäßigkeiten bei den Vorwahlen, sondern den Kapitalismus an sich, die erodierende Mittelklasse und die Vermögensanhäufungen der Superreichen! Denn: die demokratischen Vorwahlen sind zwar kompliziert, aber wesentlich fairer, weil es die Delegiertenstimmen nach Stimmverhältnis verteilt. So war Hillary Clinton mit Stand 6. Juni bei den Delegierten um 6% vorne, und nach den abgegebenen Stimmen sogar um 14%. Der Vorwahlprozess bevorzugte also am ehesten noch Sanders! Landesweite Umfragen, die ja bekanntlich unabhängig von den Wahlen durchgeführt werden, bestätigen das: hier ist Clinton konsequent um etwa 8% vorne. Da ist nichts geschoben, Hillary hat die Sache klar und fair gewonnen. Wohlgemerkt, ohne einen [Überhang an] Superdelegierten zu benötigen.
In Wahrheit aber stand Hillarys Sieg spätestens nach den New Yorker Vorwahlen im Mai für alle ernstzunehmenden Analysten (und CNN) fest. 14% Rückstand holt man nicht auf, wenn nur noch weniger als 30% der Stimmen zu vergeben sind. Sanders verliert nicht aufgrund seiner geringen Bekanntheit: seine Wählerbasis ist zu jung, zu weiß, zu männlich, zu gut gebildet und damit schlicht zu klein. Hieraus den Medien einen Strick zu drehen, wie dies Thurnher versucht, steht in einem geradezu ironischen Verhältnis zu den Tatsachen. Die US-Newskanäle müssen täglich 24 Stunden füllen und haben, weil sie sich hinter Ausgewogenheit („Balance“) verstecken, ein vitales Interesse an einem spannenden Rennen („Horse-Race-Journalismus“ heißt das). Das sah man zuletzt im Präsidentschaftswahlkampf 2012, wo die Sache sehr klar lag aber alle News-Outlets von einer knappen Wahl sprachen. Darüberhinaus ernähren sich die 24-Stunden-News-Räder abseits von 9/11-artigen Ereignissen vor allem von Konflikten, und das kam Sanders (vor allem aber Trump) messbar zu Gute.
Wieso also lese ich im Falter und anderen österreichischen Medien regelmäßig (aus meiner Sicht) unreflektiert übernommene PR aus dem Bernie-Camp? Hier muss ich ein wenig spekulieren, vermute aber folgendes: Österreichs veröffentlichte Meinung sitzt der fortschreitenden Zersplitterung („Balkanisierung“) der US-Medien voll auf. Der Standard beispielswiese präsentierte erstaunlich oft Videos des liberalen Comedians Jon Stewart und der Propagandaschleuder MSNBC als Teil von Nachrichtengeschichten. Die Filme Michael Moores gelten in Amerika als Agitprop und gehen bei uns als Dokumentation durch. In sozialen Medien schlägt sich das besonders stark nieder, da die europäische politische Mitte in Amerika eher links einzuordnen wäre: über die transatlantischen Journalistenverbindungen strömt eine Rachel [Maddow] öfter als ein Bill O'Reilly. Das betoniert ein völlig verzerrtes Bild der amerikanischen Medienöffentlichkeit ein.
Und so vermute ich den österreichischen Journalismus — freilich unter anderen Vorzeichen — in einer ähnlichen Blase wie etwa junge männliche Arbeiter in Österreichs ländlichen Regionen. Wie kann Bernie Sanders nicht gewinnen, wo doch mein Twitter-Feed und die Zeitungen voll von ihm sind? Wie können die Amis für einen Republikaner stimmen, wo doch Bush so doof war? Wie kann Van der Bellen das Rennen um die Hofburg noch drehen, wo doch alle meine Facebook-Freunde Hofer wählten?
Es wäre hoch an der Zeit, aus dieser Blase auszubrechen! Die einseitige Betrachtung Bernie Sanders, die ich seiner Omnipräsenz in sozialen Medien zuschreibe, ist eine vergleichsweise harmlose Folge davon. Viel gefährlicher ist, dass die Karrikatur des rechten, ultrareligiösen und waffenvernarrten Amis längst in den österreichischen Köpfen sitzt. Pointierter gesagt: auch ich fühle lieber den zerstreuten „Bern“ als dem Hillary-Bot 3000 zu lauschen, aber ich ziehe daraus keine Lehren für die US-Öffentlichkeit.